RHEINISCHE POST, 31. Oktober 2021

Mittelmeer-Monologe in Xanten

Die Mittelmeer-Monologe werden von Schauspielern vorgetragen, die abwechselnd die Erlebnisse von geflüchteten Menschen und Aktivisten erzählen. Foto: Ostermann, Olaf (oo)

Xanten. Schauspieler führten die Mittelmeer-Monologe in Xanten auf. Es handelt sich um Berichte von Menschen, die nach Europa flüchten, und von Menschen, die andere vor dem Ertrinken retten wollen. Es sind Berichte über die Tragödie, die sich seit Jahren an Europas Grenze abspielt.

Von Markus Werning

Es dauert etwas, bis im Publikum wieder jemand etwas sagt. Nach den vergangenen zwei Stunden ist das auch nicht so einfach. Das Publikum hat gerade gehört, wie Menschen auf dem Mittelmeer ums Überleben kämpfen, wie andere versuchen, sie zu retten, wie es ihnen oft gelingt, aber nicht oft genug, wie eine Mutter gerade noch aus dem Wasser gezogen werden kann, aber ihr Kind nicht, wie ein Mann und seine Familie von der italienischen Küstenwache aufgegriffen werden, aber sie befürchten müssen, wieder zurückgeschickt zu werden, wie ein anderer Mann vergeblich darauf drängt, dass ein Schiff evakuiert wird, weil unter Deck Menschen ersticken, wie eine Frau mitanhören muss, dass ein Mann über Bord geht und ertrinkt.

 

Es sind Berichte von Naomie, Joe, Selma und Yassin, die an diesem Freitagabend in der Mensa des Xantener Stiftsgymnasiums zu hören sind. Zwei von ihnen sind aus Afrika übers Mittelmeer nach Europa geflüchtet, weil sie oder ihre Lieben in ihrer alten Heimat misshandelt, unterdrückt, verfolgt oder gefoltert wurden oder ihnen ein solches Schicksal droht. Die anderen beiden arbeiten für die Hilfsorganisationen Alarmphone oder Seawatch, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten, die übers Wasser ein neues, besseres Leben erreichen wollen. Der Theaterregisseur Michael Ruf aus Berlin hat sie interviewt, stundenlang, und aus ihren Erzählungen die Mittelmeer-Monologe gemacht, eine Theater-Dokumentation, die aus den Berichten von Naomie, Joe, Selma und Yassin bestehen. In der Aufführung nehmen Akteure der Theatergruppe Wort und Herzschlag die Rollen der vier Frauen und Männer ein. Sie tragen abwechselnd vor, was diese erlebt haben. Sie stehen nur da und erzählen. Aber es ist so ergreifend, als wäre das Publikum selbst auf dem Mittelmeer.

Genau deshalb sind die Schauspieler vom Ausschuss Kunst Kultur Kirche der evangelischen Kirchengemeinde Xanten und vom Arbeitskreis Asyl eingeladen worden. Den Grund erklärt Ausschussmitglied Ulla Klare zu Beginn der Aufführung: Über die Flucht von Menschen über das Mittelmeer werde kaum noch gesprochen, beklagt sie. Es gebe zwar noch Meldungen, wenn wieder Frauen, Männer und Kinder ertrunken seien, dann werde die Zahl der Opfer genannt. „Aber wir vergessen sie schnell wieder“, sagt Klare. „Wir haben uns an die Tragödie im Mittelmeer gewöhnt.“ Das wollten der Ausschuss und der Arbeitskreis nicht hinnehmen. Mit der Aufführung solle das Thema wieder mehr in den Vordergrund rücken. Die Menschen sollten die Geschichten hinter den Meldungen und Zahlen erfahren.

Zum Beispiel die Geschichte von Naomie. Sie flüchtet mit ihrer Tochter aus Kamerun, weil die Familie des Kindsvaters das Mädchen beschneiden will. In dem Land kann sie deshalb nicht bleiben. Sie will woanders für ihre Tochter und sich ein besseres Leben suchen. Bald landen Mutter und Kind auf einem Boot, das sie von Nordafrika nach Europa bringen soll. Aber mitten auf dem Mittelmeer bricht es auseinander. „Dann kamen die Wellen.“ Naomie und ihre Tochter haben keine Rettungswesten. Die Mutter geht unter, verliert die Orientierung, weiß nicht mehr, wo ihr Kind ist. „Verzweifelt sah ich mich um.“ Schließlich kann sie gerettet werden. Aber ihre Tochter sieht sie nie wieder. Ihr Leben ist danach ein anderes. „Ich träume jede Nacht, wie ich im Wasser untergehe, und ein Kind, mein Kind verschwunden ist.“ Die Erinnerungen kommen immer wieder. „Wenn ich unter der Dusche stehe, habe ich das Gefühl zu ersticken.“

Es sind Berichte, die berühren und ergreifen, die nachdenklich und traurig machen. Berichte von Menschen, die sich voller Hoffnung auf den Weg machen, die aber Angst, Verzweiflung, Wut, Zweifel und Trauer erleben, die für immer mit einem Trauma leben müssen, selbst wenn sie Europa erreichen. Oder die täglich mit der Hilflosigkeit kämpfen, dass sie nicht alle aus dem Wasser ziehen können. Es sind Berichte über eine Tragödie, die sich seit Jahren im Mittelmeer abspielt, ohne dass sich etwas ändert. Berichte, die deshalb gehört werden müssen. 

Finanziert durch Förderung und Spenden
Die Aufführung der Mittelmeer-Monologe in der Mensa des Stiftsgymnasium wurde von der Sparkasse am Niederrhein, der Stadt Xanten sowie Brot für die Welt gefördert. Der Eintritt war kostenlos. Die Veranstalter baten das Publikum um eine Spende, um die Kosten der Aufführung zu decken. Sollte dann noch etwas übrig bleiben, soll es an die Seenotrettung gespendet werden.

https://rp-online.de/nrw/staedte/xanten/mittelmeer-monologe-in-xanten-gefluechtete-und-retter-bekommen-eine-stimme_aid-63787729